Über Kritikfähigkeit

Videospieler sind in der Verteidigungshaltung aufgewachsen. Angriffe auf das schönste aller Hobbies gab es in der Vergangenheit genug, von Frontal-21-Beiträgen im ZDF Anfang der 2000er Jahre über den berüchtigten RTL-Bericht zur Gamescom bis zu den routinierten Schuldzuweisungsreflexen konservativer Politiker nach Amokläufen und anderen Tragödien. Doch die permanente Defensivhaltung hat manche Spieler auch blind für berechtigte Kritik gemacht – und ihnen die Fähigkeit genommen, diese in Würde anzuerkennen.


Das war bisher auch gar nicht nötig. Denn wer von Steinzeitmenschen mit Keulen angegriffen wird, braucht keine clevere Strategie – eine simple Mauer reicht. Anders gesagt: Wenn die Argumente, die die Gegenseite aufbringt, nicht einmal oberflächlichster Überprüfung standhalten, muss sich auch niemand die Mühe einer differenzierten Gegenrede machen.

 

Die Frontal-21-Beiträge waren so voll mit Fehlern, dass mögliche Körnchen Wahrheit darin gar nicht zu sehen waren. Der RTL-Beitrag war so offensichtlich nur an Klischees und Vorurteilen interessiert, das simples Ignorieren vermutlich die beste Antwort gewesen wäre. Und dass Schuldzuweisungen und Populismus in der CSU zum guten Ton gehören, wusste (und weiß) man ja.

 

Doch diese Zeiten sind vorbei. Inzwischen ringen sich sogar konservative Parteien wenigstens ein Lippenbekenntnis zur kulturellen Bedeutung von Spielen ab. Die Berichterstattung über Spiele in den Mainstream-Medien ist heute vielfältiger, fachkundiger und schlicht besser als früher. Kein Wunder, schließlich sind viele Medienschaffenden heute selbst Spieler – oder waren es wenigstens einmal.

 

Wichtiger ist jedoch, dass sich auch Spieler selbst heute differenzierter mit ihrem Hobby und seinen Inhalten auseinandersetzen. Wo es früher fast nur Reviews im Sinne eines Waschmaschinentests gab, gibt es heute so viel mehr – absurde oder tiefsinnige YouTube-Videos, großartigen Quatsch wie Breaking Madden, akademische Inhaltsanalysen, detaillierte Porträts, liebevolle Retro-Features und sehr persönliche Geschichten, um nur ein paar zu nennen. Und schließlich auch: Feministische Kritik. Und ein paar Stimmen, die leise anmahnen, das vielleicht, eventuell, Spiele ein Problem mit Gewalt haben könnten. Und ein paar Stimmen mehr, darunter auch viele Indie-Entwickler, die beweisen, dass Spiele ganz sein können als der klassische AAA-Blockbuster.

 

Umso trauriger ist, wie ein kleiner (aber lauter) Teil der Spielergemeinde auf diese differenzierte Auseinandersetzung und diese neue Vielfalt reagiert – nämlich mit Hass. Dafür muss man gar nicht das Gamergate-Gespenst ans Licht zerren. Denn die schrecklichen Menschen, die sich unter diesem Hashtag versammelt haben, sind nicht erst seit gestern online. Zoe Quinn und Depression Quest wurden schon vor Gamergate attackiert. Kein richtiges Spiel sei das, der heiligen Kirche Steam nicht würdig. Oder die Aufregung um Gone Home und die vielen positiven Kritiken. Auch kein richtiges Spiel! Viel zu kurz! Und igitt, Homosexualität! Und schließlich der Aufschrei um ein paar harmlose feministische Analysen von Anita Sarkeesian. Wobei „Aufschrei“ noch viel zu freundlich formuliert ist.

 

Die bittere Ironie daran ist, dass die gleichen Schreihälse über Jahre lautstark gefordert haben, Spiele endlich als ernsthaftes Medium, als Kunst anzuerkennen. Dass sie damit Recht haben, bestreitet heute kaum jemand mehr. Das bedeutet dann aber auch, dass kritische Auseinandersetzungen mit dieser Kunst möglich sein müssen.

 

Und da muss es dann auch möglich sein, folgendes anzuerkennen: Natürlich haben Spiele Probleme. Natürlich gibt es zu viel Gewalt, die ohne Kontext und Konsequenzen präsentiert wird, die in Zeitlupe gefeiert und mit Punkten belohnt wird. Und natürlich gibt es zu viele männliche, weiße, heterosexuelle, sturzlangweilige Protagonisten und Charaktere. Und natürlich kommen Frauen zu oft nur als Hintergrunddekoration, Sexobjekt oder menschlicher MacGuffin vor. Und natürlich gibt es Fortschritte in dieser Hinsicht – aber am Ziel sind Spiele noch lange nicht.

 

Das Gute daran ist: Das ist auch okay. Gesellschaftlicher Wandel braucht Zeit, auch bei der Transformation eines pubertären Nischenzeitvertreibs für eine eng abgesteckte Zielgruppe in ein gesellschaftlich akzeptiertes Massenphänomen. Hollywood lernt erst jetzt, dass Genre-Filme mit weiblichen Hauptfiguren funktionieren können – Gemessen daran sind Spiele geradezu wahnwitzig progressiv.

Das Problem daran ist, dass die erwähnte laute Minderheit der „Gamer“ damit ein Problem hat. Die Social Justice Warriors seien gekommen, um ihnen ihre Spiele wegzunehmen, und Steam in ein großes Planschbecken der Political Correctness zu verwandeln. Man könnte das belächeln, wenn diese Minderheit nicht ständig hofiert würde – von Marketingmenschen, von Spieleentwicklern und Konsolenherstellern, von Medien. Als wären „Gamer“ in diesem Sinne die einzige existierende Zielgruppe.

 

Das muss aufhören. Wer heute Spiele entwickelt, sie vertreibt, bewirbt, daran verdient oder darüber schreibt, hat damit auch eine gewisse Verantwortung für das Medium. Im Scheinwerferlicht ist ein anderes Benehmen gefragt als in dunklen Hinterzimmern. Das heißt nicht, dass pubertäre Gewaltfantasien, Bikini-Rüstungen, interaktive Folter und anderer Blödsinn nicht mehr existieren dürfen. Aber es heißt, dass Reviews solche Inhalte erwähnen und einordnen müssen. Dass der Mainstream darüber diskutieren darf, ohne gleich vom Gamer-Mob attackiert zu werden. Und dass die Spielegemeinde den Mob zur Ordnung ruft, wenn es doch passiert.